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Zwischen schnelllebigem Informationsfluss und leerer Stimmungsmache

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Warum starrt er dann ständig auf sein Handy?

Heimspiel im Grünwalder Stadion. Links von mir steht ein Fan. Die Hälfte der Zeit starrt er auf sein Handy. Es ist seine Sache, es ist seine Entscheidung. Verstehen kann ich es nicht. Nach rund einer viertel Stunde spreche ich ihn dennoch an. Weil es mir auf der Zunge liegt und dort kribbelt wie kleine Ameisen.

Was ist los? Jugendliche Verliebtheit? Ich schaue zu ihm rüber. “Sie muss dir viel bedeuten, dass du während des Spiels ständig auf dein Handy starrst.”

“Was meinst du?”, fragt er.

“Nun ja, du lässt dein Handy ja kaum mehr als zehn Sekunden aus den Augen. Die Frau muss dir viel bedeuten.”

Er grinst. “Nein, Schwachsinn. Wenn Sechzig spielt, dann gibt es keine Frauen.”

Das verstehe ich nicht. Warum starrt er dann ständig auf sein Handy?

Er errät mein fragendes Gesicht, was im Grunde ein Wunder ist. Lässt es doch darauf schließen, dass er menschliche Mimik noch lesen kann und nicht vollkommen durch die kalten sozialen Medien abgestumpft ist. “Ich lese den Ticker und die Kommentare drunter. Schon krass wie bescheuert die Leute sind.”

Ernsthaft? Du liest dir bescheuerte Kommentare zum Spiel durch, während du mittendrin im Geschehen bist? Es ist eine neue Stufe einer grausamen Erkenntnis. Es gibt nicht nur die reinen Internethelden, die Sechzig ausschließlich in den sozialen Netzwerken erleben, aber immer kräftig Stimmung machen. Es gibt auch diejenigen, die in der Kurve stehen und trotzdem nicht anwesend sind. Zumindest nicht geistig. Selbst wenn man ein hohes Maß an Multitasking besitzt, glaube ich kaum, dass es erstrebenswert ist, wenn man sich von einem Spiel direkt im Stadion nur berieseln lässt und nebenher auf ein gottverdammtes Handy schaut.

Unser Leben: Liken, kommentieren und weiter scrollen

Das ist im Grunde wie mit der Sucht immer alles zu fotografieren und für die Ewigkeit festzuhalten. Die meisten Bilder schauen wir uns nie wieder an. Aber wir haben das Bedürfnis, es mit Gott und der Welt zu teilen. Ich kann Euch verraten, Gott interessiert sich einen Scheißdreck für Instagram und Facebook. Er hat uns Augen geschenkt, dass wir seine Welt mit eigenen Augen schauen. Und die Menschen in den sozialen Netzwerken? Ja, die interessieren sich dafür. Liken, kommentieren und scrollen dann weiter. Die Chance, dass wir die Bilder irgendwann wieder einmal anschauen, ist hoch. Weil Facebook sie irgendwann einmal erneut hervorwürgt und behauptet, dass wir diese Fotos nach langer Zeit sicherlich gerne wiedersehen wollen. Das sagt uns Facebook. Nicht unser Gehirn. Nicht unsere innerliche Sehnsucht und unser Erinnerungsvermögen. Das sagt uns ein System, ein Logarithmus, der dieses Bild ausgesucht hat.

Das Gehirn verarbeitet Erlebnisse in sozialen Netzwerken wie reale Erlebnisse

Es ist natürlich jedem selbst überlassen, wie er sein Leben lebt. Doch man muss sich auch klar machen, dass unser Gehirn nur eingeschränkt Informationen aufnehmen und verarbeiten kann. Und umso mehr wir in sozialen Netzwerken unser Leben verbringen, umso mehr werden Informationen verarbeitet, ohne dass wir eigentlich etwas dabei erleben. Im Grunde schaffen wir dann auch keine Grundlagen für spätere Erinnerungen. Willst du irgendwann einmal 90 Jahre alt sein und nichts zu erzählen haben? Stell dir vor, deine Kinder sitzen neben deinem Bett. Was willst du ihnen erzählen? Dass deine Welt in sozialen Netzwerken gesteckt hat?

Jede Geschichte wird von jedem anders wahrgenommen

Ich rede manchmal mit älteren Löwen. Zum Beispiel über 1966. Dieter Schweiger, unser Obststandl Didi zum Beispiel. Er saß als kleiner Junge am Spielfeldrand. Und er erzählt diese Geschichte gerne. Und auch andere erzählen gerne. Oft ist es eine gefühlte Wahrheit, denn jeder hat Geschichten anders erlebt. Manchmal erzählen dir zwei Leute die gleiche Geschichte und es wirkt wie zwei unterschiedliche Erlebnisse. Aber, es sind Erlebnisse und das ist wichtig. Egal wie man was wahrgenommen hat, man hat es wahrgenommen. Und nicht in irgendwelche sozialen Medien gepresst.

Viele Menschen zeigen Bilder auf Facebook und Co und freuen sich über viele Likes und Kommentare. Und können später nicht einmal annähernd die haptischen, akustischen und wirklich visuellen Eindrücke beschreiben. Unser Leben zieht an uns vorbei, weil wir nicht bereit sind, es anzunehmen.

Wir teilen uns mit, aber wir sagen nichts mehr

Dazu kommt: Wir meckern gerne. Das soziale Netzwerk gibt jedem eine Stimme. Früher musste man noch im Wirtshaus meckern oder mühevoll einen Leserbrief schreiben, wenn man was zu sagen hatte. Heute kann man seinen Emotionen freien Lauf lassen und die ganze Welt daran teilhaben lassen. Scheißegal, ob es die Welt interessiert. Wichtig: Man kann vor allem nicht aufs Maul bekommen. Man kann über jeden herziehen, fast ungestraft. Man kann etwas schlecht machen und braucht keine Argumente liefern. Man kann alles. Das ist die neue Freiheit. Doch wie frei fühlen wir uns, nachdem wir uns den Menschen mitgeteilt haben? Und im Endeffekt es keinen interessiert? Sollten wir nicht lieber öfters mal etwas sagen, statt uns nur mitzuteilen?

Sauber verpackte Realität

Wir brauchen eigentlich persönlich nichts mehr erleben. Weil man uns ja viele Informationen anbietet. Sauber verpackt. In irgendwelche Denkmuster, die uns alles filtern, um uns genau so zu schaffen, wie es die Stimmungsmacher wollen. Das sind nicht mehr nur noch Radikale. Das sind auch gemäßige Parteien, Gruppen und Vereine. Weil sie mit der Zeit gehen wollen. Und weil sie das Internet ebenfalls abstumpft und manipuliert. Die AFD hat begonnen, auf unsägliche Weise in die sozialen Netzwerke zu blasen, um Stimmung zu machen. Die CSU antwortet auf gleiche Weise. Und im Endeffekt auch die Grünen oder die SPD. Es geht nicht mehr um reine Argumente, sondern darum, den anderen schlecht zu machen, zu kritisieren und eben Panik vor dem anderen zu verbreiten.

Mein Handy bleibt zukünftig immer öfter daheim

Ich kann nicht mehr wirklich ohne. Weil wir viel das soziale Netzwerk auch geschäftlich benutzen. Weil wir Werbung betreiben und vernetzt sind. Aber ich kann entscheiden, wann und was ich konsumiere. Mein Handy bleibt zukünftig immer öfter daheim. Vor allem auch an Spieltagen. Keiner muss erfahren, wo ich nun genau bin. Entweder man trifft sich irgendwo oder eben nicht. Entweder man trinkt irgendwo gemeinsam ein Bier oder eben nicht. Man umarmt sich oder nicht. Unterhält sich oder nicht. Den Rest der Welt geht das ohnehin nur bedingt was an. Mein eigenes “Ich” geht nicht verloren, nur weil mein Gesicht weniger oft in irgendwelchen Chroniken erscheint. Vermutlich ist das Gegenteil der Fall.

Auf Facebook kann ich auch am nächsten Tag noch meine Begeisterung ausdrücken. Garantiert!

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