Wenn man im Stadion jahrelang in der gleichen Kurve, an der gleichen Stelle steht, dann kennt man irgendwann seine Pappenheimer um sich herum. Es fängt mit einem Servus an, irgendwann kommentiert und meckert man gemeinsam, freut sich und jubelt zusammen, bis man sich mit Namen kennt und auch private Informationen austauscht.
So lernte ich auch Michael und Peter (Namen von der Redaktion geändert)* kennen. Bei jedem Heimspiel standen sie hinter mir, außerhalb des Blocks 113, denn auf ihre Sitzkurve hatten sie einfach keine Lust. Ich erfuhr, dass sie aus dem Allgäu kommen und im Grunde schon für jedes Heimspiel viele Kilometer fahren müssen. Aber das ist nicht alles, sie fahren auch zu jedem Auswärtsspiel, jedem Testspiel, jedem Freundschaftsspiel und öfter auch zu den Spielen der Amas. Allesfahrer.
Wie machen sie das nur? Sie haben sicherlich Jobs, Familie, Verpflichtungen? Natürlich… Peter ist verheiratet und besitzt eine eigene Firma. Da er der Chef ist, kann er sich die Zeit nehmen, die er braucht, die Termine legen, wie es ihm passt. Zur Not müssen halt die Mitarbeiter in die Bresche springen, meinte er. Das geht schon. Und die Frau? Ja mei, nach so vielen Jahren Ehe ist sie froh, am Wochenende ihre Ruhe zu haben.
Auch Michael hat eine langjährige Freundin. Da sie jedoch selber eine glühende Löwin ist und ebenso zu den Heim- und teilweise Auswärtsspielen fährt, macht sie keinen Stress, wenn Michael etwas öfter wegen den Sechzigern unterwegs ist.
So sehr ich mir vorstelle, wie stressig und kräfteraubend diese Fahrten durch ganz Deutschland sind, von finanzieller Belastung ganz abgesehen, so faszinierend finde ich das. Und irgendwie romantisch. „On the road again, going places that I’ve never been“…
Jedenfalls erzählte ich ihnen, dass einer meiner unerfüllten Wünsche ein Spiel von St. Pauli gegen Sechzig am Millerntor wäre. Lass es Zufall oder doch der ominöse Wunsch an das Universum sein – er ging jedenfalls in Erfüllung. Als Allesfahrer bekam man mehr Tickets und so durfte ich mit. Natürlich lässt man sich so eine Gelegenheit nicht entgehen.
Es war Sonntag, der 11. September 2011 und ein Roadtrip stand bevor. Fast 1600 km an einem Tag.
Um 2 Uhr in der Nacht wurde ich mit dem kleinen Bus abgeholt. Peter war der Fahrer und anfangs waren wir alleine. Unterwegs gabelten wir immer wieder jemanden auf, so dass wir am Ende fünf Leute waren. Vier Männer und ich. Peter fuhr die ganze Zeit und rauchte eine Zigarette nach der anderen, während es sich die Jungs hinten bequem machten und schliefen. Unterwegs trafen wir an einer Raststätte auf der A7 noch andere Allesfahrer und machten eine ausgiebige Essenspause, bevor es weiterging.
Das Spiel wurde um 13.30 Uhr angepfiffen. Punkt 12 Uhr standen wir auf dem Parkplatz vom Millerntor… Was für ein Gefühl, was für eine Freude!
Normalerweise merke ich mir Spielergebnisse oder Einzelheiten nicht sehr lange, geschweige denn jahrelang. Aber dieser Tag war so besonders, dass sich alles einprägte. Rein das Millerntor hat mich fasziniert. Auf der linken Seite (vom Gästeblock betrachtet) stand die lustige VIP-Hütte, die so klein war, dass das Bier über eine Modelleisenbahn verteilt wurde. Auf dem Gelände der Sitztribüne hingen Blumenkästen mit Geranien, hinter uns die provisorische Tribüne (als Gerüst), so dass jedes Mal, wenn die Paulianer zum Jubeln bzw. Klatschen mit den Füßen drauf trampelten, man dachte, man wird gleich vom Zug überfahren. Und natürlich die Kurve der Ultras. Eine geschlossene Einheit. Eine Wand.
Die Sonne schien, der kürzlich verstorbene damalige Präsident Dieter SchneiderDieter Schneider wurde am 20. Mai 1947 geboren und starb 21.... besuchte und begrüßte die Löwenfans in der Kurve. Sie liebten ihn ja, denn er sicherte damals mit dem Einstieg des Investors unseren Fortbestand. Auch die Mannschaft, die zum Aufwärmen einlief, war eher vielversprechend: Lauth, Aigner, Bierofka, Vollmann, Schindler, Halfar, Kiraly … Was kann da schon schiefgehen?
Die erste Halbzeit war zittrig und wenig aufbauend, aber durch das Tor von Lauth gingen wir mit einer Führung in die Pause. Nach dem zweiten Tor der Löwen am Anfang der 2. Halbzeit dachten wir, dass man uns die drei Punkte nicht mehr nehmen kann. Die Rechnung war jedoch ohne Pauli gemacht. Durch die unglaubliche Stimmung und der Unterstützung der Fans getragen, gelang der Pauli-Mannschaft eine gigantische Aufholjagd und das Spiel endete mit einem 4:2 … für St. Pauli.
Voller Frust gingen wir zum Auto und fuhren um 16 Uhr zurück nach München. Es wurde nicht mehr viel gesprochen. Es gab ja nichts mehr zu sagen. Da fährt man 800 km hoch, führt 2:0, kassiert dann vier Tore in einer halben Stunde und muss die 800 km wieder zurück. Was für ein Mist…!
Und weil der Tag nicht schon schlimm genug war, gab es wegen einem Unfall einen riesen Stau auf der A7, so dass wir über Paderborn ausweichen und einen Umweg in Kauf nehmen mussten.
Es war 1 Uhr in der Früh (23 Stunden waren wir wach und unterwegs), als mich Peter vor der Tür absetzte und weiter ins Allgäu fuhr. Fünf Stunden später musste ich wieder aufstehen und in die Arbeit gehen … Doch ich habe es nicht bereut. Niemals.
Die nächsten Spiele werde ich im Grünwalder Stadion sitzen und meine Pappenheimer um mich herum irgendwie vermissen … Es gibt 125 eingetragene Allesfahrer beim TSV 1860, die Woche für Woche und Spiel für Spiel im Auto sitzen und den Löwen nachfahren. Egal wie weit und ob es regnet oder schneit. Verrückt, aber irgendwie auch romantisch.
Auch wenn die Strecken in dieser Saison nicht so weit sind, wünsche ich ihnen allzeit Gute Fahrt.
*Die Namen sind verändert, da ich nicht weiß, ob sie namentlich genannt werden wollen.