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Leere Westkurve – ein Nachtrag zum letzten Spiel

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Eigentlich macht es mir aktuell überhaupt keinen Spaß, nach Giesing zu fahren. Und so bin ich heute auch recht spät zuhause los. Die S-Bahn noch recht angenehm, in der U-Bahn jedoch großes Gedränge. Menschen links und rechts. Überall. Wo sie hin wollen? Ich weiß es nicht. Jedenfalls nicht nach Giesing. Zumindest nicht ins Sechzger Stadion an der Grünwalder Straße. Wäre heute ein normaler Spieltag, würden massenhaft weiß-blaue Fans die U-Bahn bevölkern. Allerdings würde ich es gar nicht mitbekommen. Weil ich längst im Giesinger Bräu wäre, meine zwei Weißwürstl essen und ein Weißbier genießen würde. Und dann noch eins. Um schließlich Richtung Stadion zu gehen.

Nicht heute.

13.20 Uhr. Viel zu spät komme ich an der Haltestelle Silberhornstraße an. Die Menschen haben sich verändert. Nicht nur, weil sie Masken tragen. Irgendwie ist einfach alles anders. Unsicherheit hat das Volk erfasst. Andere wiederum interessiert es einen feuchten Kehricht, ob Lockdown ist oder Maßnahmen verordnet sind. An Regeln halten sie sich nur widerwillig oder gar nicht. Allerdings stelle ich fest: der Großteil hat es verstanden und hält sich dran. Das ist für mich vor allem deshalb wichtig, weil mir Facebook immer wieder was anderes sagt. Weil die Leute, die Corona leugnen, in den sozialen Netzwerken einfach immer am Lautesten sind. In der Realität sehe ich durchaus überwiegend vernünftige Menschen. Das heißt nicht, dass ich einige Maßnahmen nicht in Frage stelle. Aber das ist ein anderes Thema.

Ich komme zum Stadion. Ein “Check-in” befindet sich im Südosten. Gleich hinter den Kassenhäuschen der Haupttribüne. Dort sitzen Uwe und Dorin. Zwei nette Sechzger. Man kennt sich. Dennoch nehmen sie es ganz genau. Corona. Lockdown. Auf Dunkelrot steht die Pandemie-Ampel. Und weil´s vor kurzem ein Leser kritisiert hat: ich schreibe auch hier bewusst kurze Sätze. Das ist kein grammatikalischer Fehler, sondern ein Stilmittel. Das mag man, oder man mag es eben nicht.

Weit komme ich nicht. Schon begegnet mir der Fanbetreuer Basti Weber. Der allerdings zu dem Zeitpunkt wohl eher als “Kraftfahrer vom Dienst” eingesetzt ist. Fahrer von Geschätsführer Marc-Nicolai Pfeifer. Der sitzt daneben. Grüßt freundlich. Lächelt. Es entwickelt sich ein kleiner Small-Talk. Hinter mir ist gerade 1860-Präsident Robert Reisinger beim Check-In angekommen. Nach kurzem Gespräch mit Weber und Pfeifer gehe ich rein. Keine lange Schlange. Viele kommen ohnehin nicht. Dürfen nicht. Weil, es ist Pandemie. Nein, das ist keine traditionelle Mailänder Kuchenspezialität. Sondern eine Seuche. Oder eben eine Epidemie großen Ausmaßes.

Noch mal das Prozedere: Man geht zum Check-Point. Dort gibt man seine Daten an, unterschreibt eine Erklärung hinsichtlich der Pandemie, bekommt ein Armband und seine Akkreditierung. Und dann geht man die Straße weiter entlang bis zum Haupteingang.

Markus Drees, Sebastian Seeböck, Hans Sitzberger und Robert Reisinger sind die anwesenden Funktionäre. Man unterhält sich. Über dies und jenes. Auch die Journalistin Kristina Ellwanger ist unten vor der Haupttribüne. Sie arbeitet neu für die Bild-Zeitung. Oder genauer gesagt: wieder. Nach Mutterschaftsurlaub und Elternzeit ist sie zurück bei der Bild, um wieder über die Löwen zu schreiben. Der junge Journalist, der vor kurzem die “Kopf-ab-Geste” von Dennis Erdmann zum Skandal erklärt hatte, wird wohl nicht mehr über den TSV schreiben.

Christian Poschet ist da. Er ist Fanbeauftragter. Fans sind keine im Stadion. Und so ist er das Mädchen für alles. Überall packt er an. Überall ist er zur Stelle, wenn es was zu tun gibt. Sei es ein Schild wegzuräumen, ein Banner aufzuhängen oder einen Tisch zu verrücken. Oder einfach nur mit dem Präsidium zu sprechen. Über was? Keine Ahnung. Ist auch völlig egal.

Der Blick in die Westkurve ist traurig. Trauriger als in den Spielen zuvor. Und natürlich auch der Blick in die Stehhalle. Weil ich an einem Punkt angelangt bin, wo es mir reicht. Wo ich keine Lust mehr auf Pandemie habe und mich nach Normalität sehne. Nach Freundschaft, ja, nach Familie. Nach gemeinsamen Stunden, gemeinsamen Gesängen, Bier, Bratwurst und Austausch. Bei “normalen” Spieltagen ist es so. Den einen sieht man seltener und es huscht ein freudiges “lange nicht gesehen” über die Lippen. Den anderen begrüßt man mit “du schon wieder.” Weil man sich ständig sieht. Zumindest an den Spieltagen zuhause. Nur nicht heute. Eben weil Pandemie ist.

Ich sitze neben dem Fanradio des Halleschen FC. Das ist nicht wirklich einfach. Und war beim Spiel gegen den 1. FC Saarbrücken schon nicht leicht. Das Radio aus Halle ist noch ein wenig emotionaler. “Wie ein kleines Kind” schimpft einer der beiden Reporter über Sascha Mölders, als der auf dem Boden liegt und sich an den Kopf fasst. Und auch im Laufe der weiteren ersten Halbzeit ist Mölders Mittelpunkt der Kritik. Dann fallen zwei Tore. Dennis Dressel schießt die Löwen in Führung. Wenige Minuten später legt er nach. Jetzt muss was passieren bei Halle, meint der gegnerische Radio-Sprecher mit halleschem Akzent. Eine Mischung aus osterländischem und nordostthüringischem Dialekt. Also irgendwie thüringisch-obersächsisch. Was weiß ich. Vor allem der Begriff “Sechziger” schmerzt meinen Ohren ungemein und ich wünsche mir nichts sehnlicher als in die Westkurve zurück. “Und wieder steht ein Sechziger im Weg und vereitelt den schönen Angriff von Boyd”, höre ich die frustrierten Worte. Dann ist Halbzeit. “Wird wohl ein 3:2 für Halle”, meint der Reporter.

Unten vor der Haupttribüne gibt es Kaffee und Tee. Ich hole mir selbst einen Kaffee und bringe einer jungen Dame vom Ordnungsdienst einen Tee. Weil sie so durchgefroren aussieht. Sie bedankt sich artig. Kein Wunder, sie hat ja auch meine Erziehung bekommen. Ich glaube, wir sind die einzigen im Stadion, die aus dem gleichen Haushalt kommen. Sie ist es dann auch, die nach dem Wiederanpfiff durch die Reihen geht. Und kostenlose Brezn verteilt. Wahlweise mit Butter oder eben ohne. Eine Anordnung des Geschäftsführers. Kostenlos Tee oder Kaffee gibt es ohnehin.

Der Hallesche FC möchte das Spiel drehen. Oder besser gesagt: die Radio-Moderatoren mit dem unverkennbaren halleschen Akzent möchten das. Noch sind sie gut drauf und guten Mutes. Das ändert sich, als Dennis Dressel das 3:0 macht. Schützenfest auf Giesings Höhen? Damit nicht genug. Mölders legt in der 58. Minute nach. 4:0. Terrence Boyd, der in der ersten Halbzeit noch ständig von irgendeinem “Sechziger” gestört wurde, kann zumindest einen Anschlusstreffer erzielen. “Jetzt drehen wir das Ding”, provoziert der Radiosprecher. “Ja, ich kann frech werden. Viele SechzIGER-Fans sind ja nicht im Stadion”, meint er. Ich schaue rüber: “Vorsicht, Kamerad.” Sein Mit-Moderator grinst. Meint dann, dass sein Kollege sich hier in München etwas weit aus dem Fenster lehne.

Dennis Dressel trifft erneut und dann noch Erik Tallig. Jetzt steht es 6:1. “Gibt es hier nicht mal eine Uhr?”, fragt einer der Radiosprecher aus Halle. Genervt, weil sie von ihrem Platz die Anzeigetafel nicht sehen können. Und das muss natürlich jeder Hallesche Fan am Radio wissen.”Wir zählen gar nicht mehr mit”, meint der Mann aus Halle: “Und die Anzeigetafel können wir eh nicht sehen.” Ich stehe auf. Schnappe mir meine Kamera und gehe die Treppen hinunter. Ich fotografiere das 6:1, gehe wieder hoch und zeige es ihm: “Soll ich es dir als Andenken noch per Whatsapp schicken?” Er schüttelt frustriert den Kopf.

Aus – das Spiel ist aus. Ich gehe an freudigen Gesichtern in Richtung Ausgang. Stadionsprecher Stefan Schneider nickt mir freundlich zu. Zum Abschied. Seine Freundlichkeit und durchaus erkennbare Freude ist nicht gespielt. Ein großartiger Löwe. Dem man aber anmerkt, dass auch er die Fans vermisst. Sehr sogar. Ich blicke noch einmal verträumt in Richtung Westkurve. Was da wohl los wäre in diesem Augenblick? Bamboleo … Bamboleo …

Auf dem Weg runter sehe ich Dennis Dressel. Merchandising-Geschäftsführer Anthony Power beugt sich von der einen Zone in die andere. Um den Spieler zu umarmen. Ob das sein muss während einer akuten Pandemie und entsprechenden Regeln? Dennis wartet dann auf den BR. Um Rede und Antwort zu stehen.

Draußen treffe ich noch zwei Fans. Sie machen ihren Spaziergang durch Giesing. Direkt nach dem Spiel fahren sie zum Stadion und gehen dann mit einem Bier in der Hand durchs Viertel. “Hätten wir gewusst, dass du hier bist, wir hätten dir ein Bier mitgebracht”, meint einer von ihnen. Nein, eigentlich habe ich ohnehin keine Lust auf ein Bier. Zumindest jetzt nicht. An jedem normalen Spieltag würde ich nun zum Grünspitz gehen. Und dort ein Bier trinken. Heute nicht.

Es geht nach Hause. Danach nehme ich mir erst mal eine Auszeit. Weil´s einfach nötig ist. Für mich persönlich. Wird eh genug geschrieben rund um Sechzig. Wird eh alles thematisiert, was nur ein Hauch nach Schlagzeile aussieht. Am Sonntag geht´s dann gegen Dresden. Dann sitz ich allerdings vor dem Fernseher. Wie die meisten anderen Fans auch. Ja, das wäre so eine Auswährtsfahrt mit ordentlicher Brisanz geworden. Na ja. Vielleicht bald wieder …

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