„Ein Leben ohne Sechzig ist möglich, aber wozu?“, so der Titel eines Dokumentarfilms von Hubert Pöllmann über die Fans des TSV 1860 München. Für viele des weiß-blauen Anhangs ist der Fußball und besonders der TSV 1860 München tatsächlich ein ausfüllender Bestandteil seines Lebens. Aber muss man gleich in ein großes schwarzes Loch fallen, nur weil der Fußball eine Pause macht, oder weil ein Stadionbesuch wegen der Corona-Krise in weite Ferne gerückt ist? Für den Thomas aus dem schönen Aschau im Chiemgau ist das sicher keine Option. Am vergangenen Donnerstag bin ich seiner Einladung gefolgt und machte mich erwartungsvoll auf den Weg ins Chiemgau. Die Kampenwand war unser Ziel.
Eine gemütliche Runde an einem herrlichen Sommertag unterhalb des markanten Felsmassivs. Das ist doch eine wunderbare Möglichkeit, über den Thomas einen Beitrag im wöchentlich erscheinenden „IBAS“ zu schreiben. „Geh, des kannst über mei Frau, die Sabine machen. I brauch des ned.“ Jeder kennt wohl das Gefühl, wenn man nachfragt und man schon bei der Ablehnung merkt, hier möchte jemand überredet, oder gar gebettelt werden. Nicht so beim Thomas. Diese zwei Sätze waren genug, um zu wissen, der will das nicht. Doch was will er denn tatsächlich nicht. Seine Geschichte als „Sechzger“ erzählen und sich damit ein Stückweit in den Mittelpunkt schieben, oder will er generell nicht in dieses Format der wöchentlich erscheinenden Fan-Vorstellung gepresst werden? Ich vermute jetzt einfach mal es geht nur um Ersteres. Die Geschichte dieses Tages ist es nämlich alle mal wert darüber zu berichten. Gerade die fußballlose Zeit ist der richtige Moment, um sich auf die wichtigen Dinge im Leben zu besinnen. Wenn uns die Zeit des Shutdowns in der weiterhin vorherrschenden Corona-Pandemie eines gelehrt hat, dann ist es das Bewusstsein über den unbezahlbaren Wert guter sozialer Kontakte. Und wenn Sechzig München die Basis für diese Kontakte ist, umso besser. Viele Gesichter kennen wir aus der Kurve, vom Grünspitz, im Giesinger. Jeder hat an Spieltagen so seine Rituale und ist in der Regel immer an den gleichen Plätzen und mit den gleichen Leuten anzutreffen. Welcher Mensch hinter diesem bekannten Gesicht steckt, bleibt aber oft im Verborgenen. Gut, man kann nicht jeden kennen, und doch ist es eigentlich schade. So mancher merkt, dass es nicht „nur“ der Fußball ist, der fehlt. Es sind die sozialen Kontakte. Eine bekannte digitale Plattform, in der uns FB-“Freunde“ an Erlebnissen und vor allem per Essensfoto am täglichen Speiseplan teilhaben lassen, ist da nur eine unzureichende Alternative.
Also dann mal los. Der Thomas, sein Dackel, eigentlich ein Parson Russel Terrier, und ich. Der Berg ruft. Und der Thomas ist, ohne es zu wissen und ohne sein Einverständnis, der heutige „I bin a Sechzga“. Er möge es mir verzeihen. Nach einem kurzen Stück Autofahrt bis zum Waldparkplatz ging es die ersten Meter auf dem breiten Wirtschaftsweg Richtung Kampenwand. Steine flogen über den Schotter und ein Mountainbiker rauschte an uns vorbei. „Koa Angst, mia biang da vorn ab. Da gibts koane Biker. Drong mengs nämlich de Radl ned“, so die kurze Anweisung vom Thomas, der seinem eigenen Bekunden nach seit seiner Geburt Sechzger ist. Der holprige Steig fernab des Mountainbike-Wahnsinns schien auch dem Dackel besser zu gefallen. Auf seinen kleinen drahtigen Beinchen legte der freche Schnauzer, im Vergleich zu uns, annähernd die doppelte Strecke zurück. Rechts in den Wald, links den Bach runter. Und dem nicht genug musste das Viecherl doch tatsächlich auch noch durch jeden Bachablauf unter dem Weg hindurch waten. Kein Kanonenrohr war dem Dackel weder zu lang, noch zu dunkel. Da musste der mittlerweile waschlnasse Vierbeiner einfach durch.
Der Thomas und ich waren froh, dass es auf dem normalen Weg, einfach nur gemütlich gerade aus, ganz gut geklappt hat. Auf der Flucht waren wir ja nicht und da ließen wir nachkommenden Wanderfreunden gerne auch mal den Vortritt. Oben auf dem Berg werden wir uns schon wieder sehen. Wobei der Thomas für unseren Rundweg im schönen Kampenwandgebiet das Gipfelkreuz nicht mit eingeplant hatte. Eigentlich schade. Es wäre schon interessant gewesen zu sehen, ob auch hier das Gipfelbuch in eine weiß-blaue Sechzger-Tüte eingewickelt ist. Aber egal. Es ging an diesem herrlichen Sommertag ja nicht um den Gipfel. Es ging um das Miteinander. Der Weg ist das Ziel. Und so hatten wir gemütlichen Schrittes viel Raum für gute Gespräche. Schnell wurde auch klar, dass der Thomas hier tief verwurzelt ist. Der kennt jeden Stein, jeden Wirt und jeden Getränkehändler. Und jeder hier weiß, dass der Thomas und seine Sabine Sechzger sind. Das ist aber auch unschwer zu übersehen. Ein großes Löwentattoo prangt an Thomas’ Oberarm, sein Auto ist mit unzähligen TSV-Aufklebern bestückt und im Haus von Sabine und Thomas springt einem vom Fensterladen bis zum Syphon-Deckel im Gäste-WC die weiß-blaue Gesinnung förmlich ins Gesicht. Vom Löwen dekorierten Partykeller, der im übrigen Ort des allerersten Redaktionstreffens des Löwenmagazins war, ist dabei noch gar nicht die Rede.
„Siehgst dort unten de drei rodn Dächer? Des war mei Firma.“ Thomas nimmt mich weiter mit auf die Reise seines Lebens. Wo er herkommt, was ihn nach Aschau verschlagen, wie er die Sabine kennengelernt, wann der Wirt in Aschau zugemacht hat und und und. Ein wunderbarer erfüllender Tag. Die Baumgrenze ist nun erreicht und der Blick öffnet sich auf die Kampenwand. Herrlich. Ein langer Pfiff durchdringt das Wanderidyll. Ein Blick auf die unter uns liegende Weide und schnell wird klar, dass der schrille Laut von einem Murmeltier kam. Wie die Soldaten stehen die Pelzträger aufrecht vor ihrem Erdloch und starren aufmerksam zu uns herauf. Unser umtriebiger Begleiter auf vier Pfoten schien den Alpenbewohnern eine gewisse Gefahr darzustellen. „Trixi, bist du ruhig. Kommst du wieder her“, die zumindest im Ansatz strengen Worte seines Herrchens. Sascha Mölders nannte den Dackel immer nur Idefix. Genau so sieht das Zamperl aber auch aus. „Da Mölders is überhaupts a lustiga Kerl“, erzählt der Thomas weiter. Thomas und Sabine sind so etwas wie Stammgäste im Trainingslager der Löwen. Auch für das kommende Aufwärmprogramm in der Fremde haben die beiden bereits gebucht. Da gab es einige persönliche Begegnungen mit den Spielern. Und der Sascha scheint da ein besonders lustiger Vogel zu sein. „Steh i vorm Automatn und wui mia an Kaffee rauslossn”, beginnt Thomas eine Anekdote aus dem vergangenen Trainingslager. “Kimmt vo hint da Sascha, druckt mi auf d’Seitn und sogd: „Geh weg, ich brauch einen Espresso, das Training geht gleich los.“ Ja, derlei Geschichten könnte der Thomas noch viele mehr erzählen. Als er beispielsweise mit seiner Sabine im Wohnmobil („WoWoMo“) der „Bayerischen“ ins Auswärtsspiel nach Osnabrück kutschiert wurde und mit der Mannschaft im gleichen Hotel übernachten durfte. Ja, oder von der Bayernliga-Zeit, als er kaum ein Spiel in einem der bayerischen Dorf-Arenen verpasst hatte. Aber an diesem Tag ging es ja nicht um Sechzig. Es ging ums Leben an sich. Und das konnte in diesem Moment kaum schöner sein.
Unterhalb der Kampenwand führte uns der Weg weiter zu unserer ersten Einkehr. Während unser Durst immer größer wurde, entspannten sich die Murmeltiere je weiter wir uns von ihnen entfernten. Idefix, äh der Trixi, dem Dackel eben, schien nun langsam aber sicher auch der Akku auszugehen. In einem schattigen Eck des Biergartens der Steinlingalm ließen wir uns endlich nieder und genossen den herrlichen Ausblick. Nach einem kurzen Aufenthalt ging es aber auch schon weiter, hinüber zur Möslarn-Alm, zum Peter, knapp unterhalb der Liftstation. „Schaug obe. Da unt de Gori-Alm, beim Pauli. Da kehrn ma dann des übernächste moi ei.“ „Vareck“, dachte ich mir. Das ist doch meine schönste Bergwanderung überhaupt. Wenn dir bereits nach der ersten Alm gezeigt wird, wo du das übernächste Mal fußläufig einkehren wirst. „A so a scheena Dog, koa Schnaufara is a Plog.“ Ja und dass wir der Gondelstation immer näher kamen, wurde uns auch schnell bewusst. „Bass auf, glei kemmans, de Touristn mit de Klapperl“. Der Thomas hatte nicht übertrieben. Richtige Wanderschuhe hatten die Wenigsten der uns nun entgegenkommenden Touristen-Horde an. Für Manche ist es eben kein Unterschied, ob er einen Tierpark besucht, oder in die Berge zum Wandern geht. Erwartungsvolle Blicke. Hier in den Bergen wird doch jeder Wanderer begrüßt. „Ja freilich, wann i jeden Preissn da heroben begriaßn miassad, war as Mei schnei gfranssad“, dachte ich mir und hielt mich ganz bewusst zurück. Bei dem Anblick des wachsenden Menschenansturms musste ich dem Thomas aber unbedingt meinen Lieblings-Berg-Witz zum Besten geben. „Frägt ein norddeutscher Tourist während seiner Sommerfrische im bayerischen Oberland einen Einheimischen. Hören sie mal Meister, wie heißt denn der Berg dort drüben? Der Einheimische entgegnet trocken: Weichana? Darauf der Tourist befriedigt: Danke.“ Ich weiß, der hat so einen Bart. Ich könnt mich dabei aber jedesmal selber aufs Neue totlacha. Egal. Lassen wir das. An der Möslarn-Alm angekommen musste ich auf Geheiß vom Thomas meine Bestellung in der Stubn mit „Servus Peter“ beginnen, während er im Biergarten außerhalb des Sichtfeldes des Wirtes auf mich wartete. Kaum ausgesprochen entgegnete der Wirt hinter der Theke stoisch: „Hob an Thomas scho gsehng. Den kenn i a mit Maskn.“ Ein Weißbier, ein Helles, Wurstsalat, einen gemischten Brotzeitteller und ein amüsantes Gespräch mit dem Peter. Das alles vor einer traumhaften Bergkulisse. Herz, was willst du mehr?
Von der Schlechtenberg-Alm, eigentlich unser viertes Einkehrziel, stieg ein Hubschrauber auf und flog hinunter ins Tal Richtung Prien. „Wahrscheinlich hods wieda an gwamperten E-Biker vom Radl lossn“, die trockene Analyse vom Thomas. Mit dem Blick auf die startenden Paraglider im Hang über uns stiegen wir in sanften Serpentinen langsam die Almwiese hinab. Hinter dem nächsten Buckl lag bereits unser nächstes Ziel. Die Gori-Alm. „Do gibts den bestn Kaiserschmarrn“, so die Empfehlung vom Thomas. Ein Haferl Kaffee und besagte Mehlspeise aus zerrupftem Pfannenkuchenteig später ging es dann endgültig wieder hinab in Richtung Parkplatz. Und während dem Dackel die Strapazen mittlerweile anzusehen waren, hüpften der Thomas und ich in ungeahnter Frische den Berg herunter.
Was aber hat dieser Bericht jetzt mit einem „IBAS“ , mit einer Fanvorstellung zu tun? Sehr viel. Man muss nicht immer hervorheben, warum man denn so ein besonderer Sechzger ist. Man muss nicht immer und überall über Fußball reden. Es ist nicht „nur“ das Fan-Dasein, was einen Menschen interessant macht. Es ist der Mensch an sich. Um so schöner ist es natürlich, wenn dieser Mensch auch die gleiche Leidenschaft TSV 1860 München in sich trägt, wie du selbst. Der Thomas und seine Sabine sind tief blau. Sechzig ist für die beiden nicht mehr aus ihrem Leben wegzudenken. Sechzig ist ein Lebensgefühl. Es bereichert ihr Leben, aber bestimmt es nicht. Beide sind positiv dem Leben zugewandt. Ob mit Fußball oder ohne, ob im Stadion oder vor dem Fernseher. Es kommt wie es kommt.
Danke Thomas, Danke Sabine, Danke Dackel Trixi, für diesen außergewöhnlichen Tag. Danke TSV 1860 München. Ohne dich hätte ich die drei nie kennengelernt.