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Die schlimmste Löwenzeit der Geschichte – eine Anekdote

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„Ich bin seit sechzig Jahren Löwenfan, aber so etwas wie aktuell habe ich noch nie erlebt“, schreibt ein User auf einer Internet-Plattform. Ein weiser Mann, der auf seiner Couch sitzt, über die Vergangenheit sinniert und nach reichlicher Abwägung zu diesem weisen Schluss kommt. Er liest den Satz noch einmal laut vor, bevor er auf „Senden“ drückt.

Seine Frau, die diese Worte hört, scheinbar verständnisvoll: „Ja, früher war alles besser.“ Ihre Worte klingen ironisch, aber ihren feinen, versteckten Spott bekommt er schon seit gut 40 Jahren nicht mehr mit.

„Unter Wildmoser hätte es so ein Chaos nicht gegeben“, jammert der weise Mann.

„Wohl wahr, wohl wahr!“, heuchelt sie weiter Verständnis. Sie hat einen einst lebenslustigen Mann geheiratet. Mit ihm jedoch auch den weiß-blauen Profiklub aus München. Das wäre gar nicht mal so schlimm. Wenn ihr Mann nicht immer tiefer in die lethargische Welt der Internetlöwen versinken würde. Sie trauert der Allianz Arena hinterher. Da war ihr Mann wenigstens am Samstag für ein paar Stunden weg und sie konnte mit Freundinnen in Ruhe im Garten sitzen und Kuchen essen. Ins Grünwalder Stadion geht er nicht. Nicht mehr.

„Seit sechzig Jahren!“, wiederholt der Mann. Er ist stolz auf seine Treue. „Sechzig Jahre. Ich hab alles mitgemacht. Ich weiß wie Sechzig läuft.“

Und nun platzt es doch aus ihr heraus. „Herrgott. Mein Vater, Gott habe ihn selig, hat 80 Jahre im Stehen gepinkelt und trotzdem die Schüssel nicht richtig getroffen.“ Immer wieder muss sie sich anhören, dass er ja so viel Erfahrung hat, weil er so lange Löwe ist. Sie selbst ist keine Löwin. Aber ihr gesunder Menschenverstand verrät ihr immer wieder, dass ihr Mann oft unrecht hat. Und die Probleme meist ganz anderer Natur sind.

„Was?“, fragt er irritiert. So richtig zugehört hat er nicht. „Was kommst du jetzt mit deinem Vater daher?“

„Ich geh einkaufen!“, seufzt sie. „Brauchst du was?“

„Bring mir einen Kasten Öttinger!“, meint er. „Wir haben kein Bier mehr im Haus.“ Seit er in Rente ist trinkt er Öttinger. Das mag auch mal gar nichts Verwerfliches sein. Es ist nur tief ironisch. Weil er erst vor drei Minuten einen Kommentar geliked hat: „Unser Präsi, seine Homeboys und die Öttinger-Fraktion gehören aus Giesing verjagt“. Es ist der moralisch völlig unterirdische Versuch, allen Wählern des aktuellen Präsidiums zu unterstellen, sie wären ein arbeitsscheues und sozialschmarotzendes Volk, das sich eben nur Öttinger leisten kann. Bei ihm ist es ohnehin anders. Er trinkt Öttinger, weil es ihm schmeckt.

Eigentlich, so müsste man meinen, darf jeder trinken und essen was er möchte, ohne dass jemand Schlussfolgerungen auf sein Welt- oder Löwenbild zieht. Aber das ist ein anderes Thema.

Es ist die schlimmste Zeit aller Zeiten. Die Löwen sind am Abgrund. Da ist sich unser weiser Löwe sicher. Und mit ihm einige weitere. Bestärkt durch so manches mediales Internet-Sprachrohr. Früher war alles besser. Als Wildmoser noch Präsident war. Aber wahrscheinlich eher weniger wegen der aktuellen Lage von Sechzig, so meint seine Frau. Sondern weil er damals noch mit ihr viel wandern war. Oder mit ihr im Museum war. Weil er nach einer Niederlage auch manchmal einfach nur mal „Scheiß drauf, nächste Woche läuft´s wieder besser“, geschrien hat und mit ihr dann in den Biergarten gefahren ist. Weil er damals noch jünger war und nicht über seinen dicken Bauch jammerte. Weil er nachts ständig pinkeln muss und sich drüber aufregt. Ihr Mann hat einfach den wesentlichen Punkt nicht verstanden: er ist älter geworden. Die Löwen sind das Ventil. Glücklich gemeinsam alt werden, das war früher ihr Ziel gewesen. Heute wünscht sie sich nur, dass sie mal ein paar Stunden Ruhe vor seiner Wut und Frustration hat.

Richtig. Momentan weiß man nicht so richtig, was mit Sechzig los ist. Stillstand bei den Gesellschaftern. Aber die schlimmste Zeit der Löwengeschichte? Nach dem Doppelabstieg ging es durch eine kuriose Regionalliga unter Daniel Bierofka in die Dritte Liga. Sechzig kam heim nach Giesing. Unter Michael Köllner sicherte man sich höchstwahrscheinlich einen gesunden Platz in der Dritten Liga – trotz anfänglichen Abstiegsängsten.

Wer für sich und sein Seelenwohl etwas tun möchte, der beherzige das Gelassenheitsgebet des Theologen Reinhold Niebuhr. „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Vor allem aber lasst uns genießen, dass wir Löwen sind. Dass wir in Giesing sind. Lasst uns an der Hoffnung festhalten, dass wir möglichst bald wieder die Löwen live im Stadion bejubeln können. Die Corona-Krise hätte uns eigentlich eines lehren müssen: dass wir dankbar sein müssen für das was wir haben und nicht immer dem hinterhertrauern sollten, was wir uns wünschen.

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